KUNSTLERZWILLINGE
Frank & Koen Theys


“Einer hat immer unrecht: aber mit zweien beginnt die Wahrheit.- Einer kann sich nicht beweisen: aber zwei kann man bereits nicht widerlegen.”
Friedrich Nietzsche

In den vergangenen zehn Jahren haben wir uns mit der Tatsache abgefunden, daß die Moderne - die ästhetische Moderne, die eines Picasso, eines Mondrian, Joyce, Schönberg oder eines Clement Greenberg - durch die Veröffentlichung maßgeblicher Studien und die Einrichtung von Abteilungen für moderne Kunst in bereits bestehenden Museen institutionalisiert wurde. Ganz unvermittelt wurde uns bewußt, daß die Moderne bereits der Vergangenheit angehört und daß sie künstlerische und soziale Lösungen, die sie in ihrer Vielfalt von Pamphleten, Programmen, Statements und Manifesten verheißen hatte, nicht mehr bieten kann. Auch war dem Werk offenbar, was das betrifft, das Avantgardehafte abhanden gekommen, das die Phantasie des Publikums für Generationen gefesselt hatte. Die Moderne war fast über Nacht zu einem weiteren Mythos des 20. Jahrhunderts geworden. Die Zeit der Großen Männer und der Großen Ideen war nun unser Goldenes Zeitalter. Und als Reaktion auf den Kehrichthaufen vor unserer Tür verhielten wir uns ganz ähnlich wie die Manieristen des l6. Jahrhunderts, die mit der gleichen Art von Heldenverehrung wie wir konfrontiert worden waren. Die Künstler begannen, in den Trümmern herumzustochern, und sie holten sich alles, was ihre Phantasie in irgendeiner Weise, zumeist ironisierend, anregen konnte.

Zuerst sah sich das Publikum mit dem Beginn einer hochgradig subjektiven expressionistischen Malerei konfrontiert, dann wurde die Neo-Minimal-art oder Neo-Conceptual-art populär, und nun wurden wir Zeugen der Anfange der Gebrauchskunst. Aber offenbar war es den Künstlern nie mehr möglich, die Ehrfurcht des Publikums zu gewinnen. Nicht einen Moment länger jedenfalls als, sagen wir, einige Fernsehminuten lang. Dekonstruktion und Besitznahme hießen die Schlagworte, deren sich die Kritiker bedienten, um die bereits begonnene Demontage des Mythos der Moderne zu verdeutlichen, wobei sie eine geschichtsbewußte Konzeption von unter neuem Blickwinkel betrachteter Vergangenheit an den Tag legten.

Eines der dauerhaftesten Fundamente dieses Mythos ist der Wert, der dem Individuellen zugeschrieben wird, und zwar dem individuellen Werk ebenso wie dem individuellen Künstler, ein Wert, in dem Selbstreflexion einen großen Stellenwert hat und der eher mit den formalen denn mit den intentionalen Aspekten der Kunst zu tun hat. Die Moderne - die heutzutage als Begriff eher die Kultur schlechthin umfaßt, als daß sie auf die Kunst allein beschränkt wäre - feierte ihre berühmten Helden derart, daß diese zu wahren Halbgöttern wurden, unberührbar und unberührt wegen ihrer ausschließlichen Fähigkeit, wunderbare Dinge zu schaffen, wobei sie das Banner des Fortschritts hochhielten.

Der einzige Weg, seine Individualität aufzulösen, den die modernistische Gesellschaft zuließ, war, einer anerkannten Gruppe beizutreten. Und, paradox genug, lediglich in Konfrontation mit diesen Gruppen erlangte man seine Individualität.

Das bei weitem idealste "Vehikel", dieses Verständnis der Moderne vom individuellen Schöpfer zu unterminieren, sind eineiige Zwillinge. Durch ihren mythischen Status, der noch durch beruhmte Vorfahren wie Kastor und Pollux oder Kain und Abel gefestigt wird, heben sie sich entschieden von der Front der Durchschnittsindividualisten ab. Sie tun dies mehr noch auf Grund ihrer Austauschbarkeit, nicht nur in physischer, sondern oft auch in geistiger Hinsicht, was für die Vorherrschaft des Individuellen höchste Bedrohung bedeutet.

“La nature est un temple où de vivants piliers
Laissent parfois sortir de confuses paroles;
L' homme y passe a travers des forets de symboles
Qui l’observent avec des regards familiers.”
Charles Baudelaire

Nach seinem Besuch des umstrittenen Konzerts in Paris, wo Wagner selbst einige seiner Kompositionen dirigiert hatte, unter anderem die Ouvertüren zu Tannhäuser und Lohengrin, verglich Baudelaire sein oben zitiertes "Souvenir" mit dem Liszts und mit dem Programmtext, der damals vom Theatre Italien verbreitet wurde. Auf diese Weise versuchte er nicht nur, den Grad der Wertschätzung von Wagners Musik auszumachen, sondern - und das ist noch bedeutsamer - dadurch, daß er auf die Ähnlichkeiten in den verschiedenen Kommentaren hinwies, gelangte er zu einer Definition des Wesens des Vlagnerschen Gesamtwerks: “ ... a peindre l'espace et la profondeur, materiels et spirituels."

Als die Zwillingsbrüder Frank und Koen Theys (geb. 1963 in Uccle/Belgien) beschlossen, Rheingold und Die Walküre, die ersten beiden Teile von Der Ring der Nibelungen, unter ihrem eigenen Titel Lied meines Landes neu als Video zu produzieren (1984-1989), gingen sie von eben diesen Qualitäten aus, sie bedienten sich verschiedener musikalisch und ikonographisch miteinander verwobener Themen aus Wagners Zyklus, um ein Werk zu schaffen, in dem die Zweiheit - Raum und Tiefe, Materielles und Geistiges - eine Einheit bildet. Der Ausgangspunkt liegt in Wagners mnemotechnischem System, das ein verschlungenes Netzwerk von Zeichen, seien es Objekte, Figuren, Sprache oder Musik entwirft. Im Ring kommt jedem Element die gleiche Bedeutung zu. Weltliche wie religiöse Werte, das moderne Individuum wie die Götter der Antike sind sogar über die Mythologie hinausgegangen und enden dort, wo alles begann: im Chaos.

Frank und Koen Theys nehmen diesen Zustand des Chaos als einen Zeitpunkt, da alles möglich ist und nichts mehr gesagt wird, wo Differenzierung autbört und Nicht-Differenzierung beginnt. Und da sie eineiige Zwillinge sind, repräsentieren sie diesen Zustand der Nicht-Differenzierung auf perfekte Weise. Mit ihnen hört buchstäblich jeder Unterschied auf, die Zweiheit bildet die Einheit.

Oder, in einem sehr viel weiteren Sinne, das Individuum geht auf im Nichts. Ein Phänomen, das durch das Fernsehen illustriert wird, wo jedes Subjekt den gleichen Nicht-Wert erlangt, denn es wird ohne jedwede ersichtliche Diskriminierung im Fernsehen übertragen. Sein tautologischer Charakter entleert das Programm von jeglicher beabsichtigter Differenzierung. Dafür den Ring als Analogie zu nehmen, nicht nur für ihren eigenen Status als eineiige Zwillinge, sondern für die Moderne schlechthin, und das als Fernseh-Ereignis zu präsentieren, unterstreicht perfekt die Auffassung, daß das Publikum es für notwendig hält, sich Mythen zu erschaffen, weil es sich andernfalls in einer Situation wiederfinden würde, wo zwischen ihm und den Künstlern keinerlei Unterschiede mehr bestünden.


Wim A. Hayes (Aus dem Engl. übersetzt von R. von Beckerath) - KUNSTFORUM
apr - mai 1990

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